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Die

literarische

Expertenmeinung


Herr Gustav Meyrink

zum Thema

Petroleum

 Quelle Foto: wikipedia.de

  Geschichte aus: "Tschitrakarna, das vornehme Kamel" - 
33 Stücke aus "Des deutschen Spießers Wunderhorn" (hrsg. 1916)
Aufbau Verlag Philip Reclam jun. Leipzig, 1. Auflage 1978, S. 193 ff


"Petroleum, Petroleum" (Erstveröffentlichung1903)

Freitag - mittags - war es, da schüttete Dr. Kunibald Jessegrim
die Strychninlösung langsam in den Bach.
Ein Fisch tauchte an die Oberfläche - tot - mit dem Bauche
aufwärts.
,,So tot wärest du jetzt", sprach Jessegrim zu sich selber und
reckte sich - froh, daß er die Selbstmordgedanken mit dem
Gifte weggegossen hatte.
Dreimal in seinem Dasein hatte er auf diese Weise schon dem
Tode ins Auge gesehen, und jedesmal war er durch eine dumpfe
Ahnung, daß er noch zu Großem - zu einer wilden, umfassenden
Rache - berufen sei, wieder an das Leben gefesselt
worden.
Das erste Mal wollte er ein Ende machen, als man ihm seine
Erfindung gestohlen hatte, dann nach Jahren, wie sie ihn aus
seiner Stellung jagten - weil er nicht aufhörte, den Dieb seiner
Erfindung zu verfolgen und bloßzustellen -, und jetzt, weil
- - weil - -
Kunibald Jessegrim stöhnte auf, wie die Gedanken an sein
wildes Weh wieder lebendig wurden. -
Alles war dahin - alles, an dem er gehangen,- alles, was ihm
einst lieb und teuer gewesen. - Und nur der blinde, bornierte,
grundlose Haß einer Menge, die, von Schlagworten beseelt,
allem sich entgegenstemmt, was nicht in die Schablone geboren
ist, hatte ihm das angetan. -
Was hatte er nicht alles unternommen, erdacht und vorgeschlagen. -
Kaum im Zuge, mußte er aufhören - vor ihm die ,,chinesische
Mauer": der lieben Menschen breitgestirnte Schar und das
Schlagwort ,,aber".

,,Gottesgeißel" - ja, so heißt die Erdösung. - Herr
im Himmel, Allmächtiger, laß mich ein Zerstörer sein - ein
Attila! - loderte die Wut in Jessegrims Herzen. -

Timur Lenk, der Dschingis-Khan, wie er durch Asien hinkt
und Europas Fluren verwüstet mit seinem gelben Mongolenheer
- die Vandalenführer, die erst auf dem Schutte römischer
Kunst die Ruhe finden - sie alle waren von seinem Geschlecht
- starke, ungeschlachte Brüder, in einem Adlernest
geboren. -
Eine ungeheure, schrankenlose Liebe zu diesen Geschöpfen des
Gottes Shiva erwachte in ihm. - Die Geister dieser Toten
werden mit mir sein, fühlte er - und ein anderer Typus trat
in seinen Körper – blitzartig.
Wenn er sich in diesem Augenblicke hätte in einem Spiegel
sehen können, wären ihm die Wunder der Transfiguration kein
Rätsel mehr geblieben. - -
So fallen die dunklen Mächte der Natur ins Blut des Menschen
- tief und schnell.

Dr. Jessegrim besaß ein profundes Wissen - er war Chemiker,
und sich durchzubringen, fiel ihm nicht schwer. -
In Amerika kommen solche Menschen gut fort - was Wunder,
daß auch er bald zu Geld kam - zu Reichtümern sogar.
Er hatte sich in Tampico in Mexiko angesiedelt und durch
einen schwunghaften Handel mit Meskal, einem neuen narkotischen
Genuß- und Betäubungsmittel, das er chemisch zu
präparieren verstand, Millionen erworben.
Viele Quadratmeilen Ländereien im Umkreise Tampicos
waren sein eigen, und der enorme Reichtum an Petroleumquellen
versprach sein Vermögen ins Ungezählte zu vermehren.
Doch das war es nicht, wonach sein Herz sich sehnte.

Neujahr zog ins Land. -
,,Morgen wird der 1. Januar 1951 sein, und die faulen Kreolen
werden wieder einen Anlaß haben, drei Feiertage lang sich zu
betrinken und Fandango zu tanzen" , dachte Dr. Jessegrim und
sah von seinem Balkon auf das stille Meer hinab.
Und in Europa wird's nicht viel besser sein. Jetzt um diese Zeit
erscheinen in Österreich schon die ,,Tagesblätter" – zwei 
mal dicker als sonst und viermal so dumm. Das neue Jahr
als nackter Junge abgebildet. Frische Kalender mit schwebenden
Frauen und Füllhörnern, statistische Merkwürdigkeiten:
Dass am Dienstag 11 Uhr 36 Minuten 16 Sekunden mittags
genau 9 Milliarden Sekunden verflossen seien, seit der Erfinder
der doppelten Buchhaltung die Augen zur wohlverdienten
ewigen Ruhe geschlossen habe - und so weiter. - - -
Dr. Jessegrim saß noch lange und starrte auf den regungslosen
Meeresspiegel, der so eigen schimmerte im Sternenschein. Bis
es zwölf Uhr schlug. -
Mitternacht! - -
Er nahm seine Uhr heraus und zog sie langsam auf, bis
seine Fingerspitzen den Widerstand am Remontoir fühlten. -
Leise drückte er dagegen und immer stärker . . . da - -
ein leises Knacken, die Feder war zerbrochen, die Uhr stand
still. - - -
Dr. Jessegrim lächelte spöttisch: ,,So will ich euch auch
die Feder abdrehen, ihr lieben, guten - - -"

Eine fürchterliche Detonation erschreckte die Stadt. Sie
dröhnte von weit her, vom Süden, und die Schiffer meinten,
es müsse in der Nähe der großen Landzunge - ungefähr
zwischen Tampico und Veracruz - der Ursprung der Erscheinung
zu suchen sein. -
Feuerschein hatte niemand gesehen - auch die Leuchttürme
geben keine Signale. - -
Donner? - jetzt - und bei heiterem Himmel! - - Unmöglich.
- Also wahrscheinlich ein Erdbeben. -
Alles bekreuzigte sich - nur die Wirte fluchten wie wild, denn
sämtliche Gäste waren aus den Schenken gestürzt und hatten
sich auf die Anhöhen der Stadt begeben, wo sie sich unheimliche
Geschichten erzählten.
Dr. Jessegrim beobachtete all das gar nicht, er war in sein
Studierzimmer getreten und summte etwas wie: ,,Ade, mein
Land Tirol" -
Er war vorzüglich aufgelegt und holte eine Landkarte aus der
Schublade, stach an ihr mit einem Zirkel herum - verglich in
seinem Notizbuch und freute sich, daß alles stimmte: Bis
Omaha, vielleicht noch weiter nach Norden zog sich das
Petroleumgebiet, daran ließ sich nicht mehr zweifeln, und daß
das Erdöl unterirdisch ganze Seen, so groß wie die Hudsonbai,
bilden mußte, das wußte er,
Er wußte es, er hatte es ausgerechnet - volle zwölf Jahre daran
gerechnet.
Ganz Mexiko stand seiner Meinung nach auf Felsenhöhlen im
Erdinnern, die zum großen Teile, wenigstens so weit sie mit
Petroleum gefüllt waren, miteinander in Verbindung standen.
Die vorhandenen Zwischenwände nach und nach wegzusprengen,
war seine Lebensaufgabe geworden. - Jahrelang hatte
er dazu ganze Scharen Arbeiter beschäftigt- und was das für
Geld gekostet!
Die vielen Millionen, die er an dem Handel mit Meskal verdient
hatte, waren draufgegangen.
Und wenn er dabei ein einziges Mal eine Erdölquelle traf -
wäre alles ausgewesen. - Die Regierung hätte ihm natürlich
sofort die Sprengerei gelegt, der sie sowieso stets abhold
war. - - -
- Heute nacht sollten die letzten Wände fallen - die zum
Meere zu - an der Landzunge - und die weiter nördlich bei
St. Louis de Potosi. -
Automatische Vorrichtungen besorgten die Explosion
Dr. Kunibald Jessegrim steckte die paar Tausenddollarscheine,
die ihm noch blieben, zu sich und fuhr auf den Bahnhof. -
Um vier Uhr früh ging der Schnellzug nach New York. -
Was sollte er noch in Mexiko?!

Richtig, da stand es schon in allen Zeitungen - das
Originaltelegramm von sämtlichen Küstenpunkten des mexikanischen
Golfes in den Abkürzungen des internationalen
Cable-Code:
,,Ephraim Kalbsniere Beerenschleim", was übersetzt ungefähr
heißt: ,,Meeresspiegel ganz mit Petroleum bedeckt, Ursache
unbekannt, alles stinkt weit und breit. Der staatliche
Gouverneur."
Die Yankees interessierte das ungemein, da das Ereignis doch
zweifelsohne einen mächtigen Eindruck auf die Börse und die
Petroleumkurse hervorbringen mußte - und Besitzverschiebung
ist doch das halbe Leben! - -
Die Bankmänner in Wallstreet, von der Regierung befragt, ob
das Ereignis ein Steigen oder Sinken der Kurse hervorbringen
werde, zuckten die Achseln und lehnten Urteile ab, ehe nicht
die Ursache des Phänomens bekannt sei; - dann allerdings -
- wenn man das Gegenteil von dem an der Börse machen
werde, was die Vernunft gebiete, ließe sich wohl viel Geld
verdienen. -

Auf die Gemüter Europas brachte die Nachricht keinen besonderen
Eindruck hervor - erstens war man durch Schutzzölle gedeckt, 
und zweitens waren gerade neue Gesetze im
Werden, die durch geplante Einführung des sogenannten dreijährig 
freiwilligen Nummernzwanges, verbunden mit Abschaffung 
der Eigennamen männlicher Individuen, die Vaterlandsliebe 
anfachen und die Seelen zum Militärdienste besser
geeignet machen sollten. - -
Unterdessen floß das Petroleum, genau wie Dr. Jessegrim
berechnet hatte, fleißig aus den unterirdischen Becken Mexikos 
ins Meer ab und bildete an der Oberfläche eine
opalisierende Schicht, die sich immer weiter und weiter ausdehnte 
und, vom Golfstrom fortgetrieben, bald den ganzen
Meerbusen zu bedecken schien.
Die Gestade waren verödet, und die Bevölkerung zog
sich ins Innere des Landes zurück. -
Schade um die blühenden Städte!
Dabei war der Anblick der See ein furchtbar schöner - eine
unabsehbare Fläche, schimmernd und schillernd in allen
Farben: Rot, Grün und Violett - - wieder tiefes, tiefes
Schwarz, wie Phantasien aus märchenhafter Sternenwelt. -
Das Öl war dicker, als sonst Petroleum zu sein pflegt, und
zeigte durch seine Berührung mit dem salzigen Seewasser
keine andere Veränderung, als daß es allmählich an Geruch
verlor. - - -
Die Gelehrten meinten, daß eine präzise Erforschung der
Ursachen dieser Erscheinung von hohem wissenschaftlichem
Werte sei, und da Dr. Jessegrims Ruf im Lande - wenigstens
als Praktiker und Kenner mexikanischer Petroleumlager
begründet war, stand man nicht an, auch seine Meinung einzuholen. -
Die war kurz und bündig, wenn sie auch das Thema nicht in
dem Sinne behandelte, wie man erwartete:
,,Wenn das Erdöl in dem Maße weiterströmt, wie bisher, so
werden meiner Berechnung nach in 27 bis 29 Wochen sämtliche
Ozeane der Erde davon bedeckt sein und ein Regen in Zukunft
für immer ausbleiben, da kein Wasser mehr verdunsten kann.
- Im besten Falle wird es dann nur Petroleum regnen.“ -
Diese frivole Prophezeiung rief eine stürmische Mißbilligung wach, 
gewann aber täglich an Wahrscheinlichkeit,
und als die unsichtbaren Zuflüsse gar nicht versiegen wollten -
im Gegenteil, sich ganz außerordentlich zu vergrößern schienen, 
befiel ein panisches Entsetzen die gesamte Menschheit.
Stündlich waren neue Berichte von den Sternwarten Amerikas
und Europas zu lesen - ja sogar die Prager Sternwarte, die
bis dahin immer nur den Mond photographiert hatte, begann
allmählich, sich den neuen seltsamen Erscheinungen zuzuwenden.
In der alten Welt sprach bald niemand mehr von der neuen
Militärvorlage, und der Vater des Gesetzentwurfs, der in einer
europäischen Streitmacht bedienstete Major Dressel Ritter von
Glubinger ab Tinkski auf Trottelgrün, kam ganz in Vergessenheit.
Wie immer in den Zeiten der Verwirrung, wenn die Zeichen
des Unheils dräuend am Himmel stehen, meldeten sich die
Stimmen der unruhigen Geister, die mit dem Bestehenden nie
zufrieden, an altehrwürdige Einrichtungen zu tasten wagen:
,,Weg mit dem Militär, das unser Geld frißt, frißt, frißt! -
Bauet lieber Maschinen, ersinnet Mittel, um die verzweifelnde
Menschheit vor dem Petroleum zu retten." - - - 
Aber das geht ja doch nicht - mahnten die Besonnenen, man
kann doch nicht so viele Millionen Menschen auf einmal brotlos
machen!
,,Wieso brotlos? Die Mannschaft braucht ja nur entlassen
zu werden - jeder von ihnen hat ja doch etwas gelernt,
und sei es auch nur das einfachste Handwerk", war die
Antwort.
- - - ,,Na ja - gut - die Mannschaft! - Aber was soll man
mit den vielen Offizieren machen?" -
Das war allerdings ein gewichtiges Argument.

Lange schwankten die Meinungen hin und her, und keine
Partei konnte die Oberhand gewinnen, bis die chiffrierte
Kabelbotschaft aus New York eintraf:
,,Stachelschwein pfundweise Bauchfellentzündung Amerika"
- das heißt übersetzt:
- ,,Erdölquellen nehmen stetig zu, Situation äußerst gefährlich.
Drahtet umgehend, ob Gestank bei euch auch so unerträglich.
Herzlichen Gruß! Amerika."
- - Das schlug dem Faß den Boden aus! -

Ein Volksredner - ein wilder Fanatiker - stand auf -
mächtig wie ein Feld in der Brandung - faszinierend - und
stachelte durch die Kraft seiner Rede das Volk zu den unüberlegtesten
Taten.
,,Lasset die Soldaten frei - fort mit dieser Spielerei - sollen
die Offizieren sich auch einmal nützlich machen. - Geben wir
ihnen neue Uniformen, wenn's ihnen schon Freude macht -
meinetwegen froschgrüne mit roten Tupfen. - Und an die
Meeresufer mit ihnen, sollen sie dort mit Fließpapier das
Petroleum auftunken, während die Menschheit nachdenkt, wie
dem schrecklichen Unheil zu steuern ist." -
- - Die Menge jubelte Beifall. -
- Die Vorstellungen, daß solche Maßregeln gar keine Wirkungen
haben könnten, daß sich da doch viel eher mit chemischen
Mitteln ankämpfen ließe, fanden kein Gehör. -
,,Wissen wir - wissen wir alles", hieß es. ,,Aber was soll man
denn mit den vielen überflüssigen Offizieren anfangen -
he?"

gefunden 2010 von I. Körner @
Satiren-Leserin
Hat Gustav Meyrink (1868 - 1932) die Erdölkatastrophe im Golf von Mexiko 2010 schon 1903 geahnt?

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