1 - Geschichten, die das Leben schreibt 
Reinhardt Grobleben notierte folgende Begebenheit:

Radus

Das hinreichend bekannte Skype - Klingelzeichen erklang in meinem Computer. Ich hob den grünen symbolischen Hörer und hörte amüsiertes Kindergeschrei. Das war Radus. Ich sah ihn nicht. Peng. Da war er schon wieder weg. Und von Neuem klingelte es. Siegreiches Jubeln. Radus hatte mich angerufen. Seine Mutti schaltete die Kamera dazu und er rief „Papa, Papa, Papa!“ und schickte Handküsschen. Niedlich kleine Handküsschen.
Mutti Vasantha rief überrascht „das hat er allein gemacht! Er hat dich allein angeskypt!
Was soll man dazu sagen?“ Fast war sie ein bisschen böse. Oder stolz? Oder beides?
Warum das? Weil Radus zu Ostern erst drei Jahre alt sein wird. Drei Monate fehlen noch.
Immer wieder sonntags riefen seinen Eltern an bei mir. Er hatte beobachtet, was die Mutter tat und schnell begriffen. Der fast Dreijährige hatte vordem manchmal „dazwischen gefunkt“. Auf die Tasten gehauen mit der flachen Hand und die Verbindung gestört.
Aber wer ist Radus eigentlich?
Ein kleiner Franzose. Der einzige Franzose in der Familie . Vater Raku und Mutter Vasantha stammen aus Sri Lanka. Sie sind Tamilen und leben in Paris, seit Jahren.
Als dort Bruderkrieg herrschte in den letzten Jahren des vergangenen Jahrhunderts, bangte Raku um sein Leben und brach auf „in den Westen“. Warum immer nach Westen?
Warum wohl wurde er nicht auf der Mitte seines langen Weges ansässig?
So kam er nach Dresden. Und stellte Anträge zum Hier – Bleiben – Dürfen. So einfach stellte er es sich vor.
Auf einem Straßenfest in der Woche der internationalen Solidarität lernten wir uns kennen. Augenzwinkernd bot mir der sympathische Mann mit der milchkaffeebraunen Haut sein Radio an. Weil er ohne Geld nicht leben konnte.
Landsleute, die schon länger in der Flosshofstraße in Löbtau „aufbewahrt“ wurden und dort zu essen bekamen nach deutscher Art, brachten ihn in einem großen Restaurant im Stadtzentrum unter. Zum Geschirrspülen. Bei offenem Fenster. Immer musste der Wirt mit Polizeikontrollen rechnen, Dann sollte das Fenster des Fluchtwegs Anfang sein. Das war Befehl „Raus, raus, ihr verfluchten billigen Schwarzarbeiter“ sonst geht es mir an den Kragen.
Verflucht billig war er für den Wirt sowieso.
Mehr als dreißig Seiten lang dann die Ablehnungsentscheidung vom Gericht. Deutsche Gründlichkeit. Fünfundzwanzig davon waren Quellen, Zitate, frühere Entscheidungen und Kommentare zum Asylrecht. Genug Papiermüll für den Analphabeten. Buchstabensalat mit Stempel.
Er wurde gejagt, hielt sich versteckt, neckte die Polizei und verschwand eines Tages kaum war das neue Jahrtausend angebrochen. Paris. „ France is better.“
Raku bekam dort Arbeit.“ So viele Teller immer und so alles…“
Er hatte sich meine Telefonnummer auf Papier gekritzelt. Und etwas dazu, was ihn unterscheiden ließ, wessen Nummer es war.
Heute lachte er wieder in die kleine Kamera und ich sah die inzwischen fette Wampe, umhüllt vom farbigen Sarong. Und Radus füllte in der Skypezeit lebhaft sein Bäuchlein mit knusprigen Kartoffelchips. Eine damit gefüllte Schüssel stand vor ihm auf dem Tisch.
Alles für den kleinen Liebling der Familie. Das genoss er. Wie vorigen Sonntag die vielen Bonbons. Aber ich sah auch wie die Mutti Vasantha mit der Reisschüssel in der Hand dem Jungen immer hinterher lief. Es war Mahlzeit. Radus wollte nicht sitzen beim Essen. „What can I do? Da muss ich immer hinterher laufen beim Füttern.“ Lachte sie und zuckte hilflos mit den Schultern.
Wer aber ist Mutti Vasantha?
Auch eine Tamilin.
Der Krieg war längst beendet. Sie hatte ihn gut überstanden.
Rakus Mutter fand, sie könnte eine gute Frau werden für ihren Sohn in der Ferne.
Ein bisschen mütterlich korpulent, sympathisch lächelnd. Sie könnte auch eine gute Mutter werden für ein Enkelkind, oder zwei, drei, vier Enkelkinder.
Warum eigentlich nicht?
„Raku, mein Sohn, ich schicke dir eine Frau nach Paris. Du wirst sie heiraten. Kein Widerspruch. Mach endlich, was dir deine Mutter sagt.“
Das Dorf hatte gesammelt für die lange Schleuserreise. Und eines Tages war sie da.
„Komme in den Tempel“, sagte ein Freund zu Raku. „Sie wird einen glitzernden blauen Sari anhaben“.
Raku ging in den Ganapathy Tempel in der Rue Pajol, ganz in der Nähe der Metrostation La Chapelle.
Von der Straße aus gesehen ist es eher ein Geschäftshaus, innen aber ein Tempel nach südindischer Tradition. An den Wochenenden brennen bis zu 500 Besucher Kerzen an oder verkrümeln dort Blumenblüten und streuen sie aus vor den feisten Mönchen.
Er hatte sie gesehen. Der Vierzigjährige fühle sich wie ein spät pubertierender Jüngling. War aufgeregt. Sollte er oder sollte er nicht?
„Sie sieht ganz gut aus“, hörte ich am anderen Tag am Telefon. „Aber sie ist ein bisschen dick. Und sie wird schlauer sein als ich. Soll ich sie nehmen? Meine Mutter will es unbedingt. Ich kann nichts anderes machen, sonst ist die Mutter unglücklich oder gar böse.
Ob die Götter es wollen?“
Ein neuer Treff im Tempel. Sie bemerkte ihn. Und fieberte. Warum wäre sie sonst gekommen?
Sie sprechen ein wenig zusammen.
Kurz danach bereiten sie das große Fest vor. Ihr Haar glänzte immer so schön fett, der Sari sah so wunderbar aus. Silberne Fäden glitzerten in der feinen Seide.
Was will man mehr?
Der Festtag stand unmittelbar bevor. Sie und er geschmückt mit goldenen Ketten am Hals und an den Handgelenken.
Geklärt war bald, wo die Hochzeit stattfinden würde, wer unbedingt teilnehmen sollte. Die wichtigste Sache war noch offen: wer würde das Hochzeitsvideo machen?
Mohan sagte zu.
Ich sah es dann später und fand es ganz lustig. Würdevoll wurde das Paar umtanzt, besungen und mit Beifallssalven bedacht. Ein Standesamt brauchte man nicht. Vor den Göttern zählt staatliche Macht ohnehin nicht.
Raja war anwesend und Dilaksan, Vimal und Enonia , auch Mary Clementina und Freunde von diesen und wer es sonst noch rechtzeitig erfahren hatte. Sie brachten Geschenke und Girlanden. Die Blumen aus Plast blühen bis heute. Ich sah einige letzte Woche auf meinem Bildschirm.
Raku war fleißig und beliebt bei seinen Kollegen im Restaurant. Sein Chef vertraute ihm den Schlüssel an für den Abfallcontainer und zahlte jeden Tag passend den Lohn aus.
Ein Teil davon ging zur Mutter und den Verwandten in Sri Lanka, ein anderer Teil diente immer wieder der zinslosen Schuldentilgung bei Freunden und Bekannten in der Stadt. Das Geld reichte nie.
Bald erblickte der Stammhalter Radus die Lichter von Paris. Man war eine richtige Familie, mit Familienoberhaupt, dem Ehemann und dem Kindchen. Ein Wickelbaby im Badetuch sah ich auf dem Monitor. Vor reichlich zwei Jahren .
Und ich jubelte mit den Eltern gemeinsam als sich der süße kleine Boy nun selbst aus der Rückenlage auf den Bauch drehte. Sein goldenes Armband blinkerte mich an. Inzwischen hatte er längst ein anderes, der fast Dreijährige. Er hatte auch Berge von bunten Plastspielzeugen mit denen er immer umher warf.
Von jeden neuen Zähnchen erfuhr ich, und ich hörte es knirschen in seinem Mund, wenn er die Bonbons eilig zerbiss.

Die haselnussbraunen Äuglein konnten immer so niedlich lachen, wenn er rief „Papa, Papa“ Und sie konnten auch manchmal einen Bach voller Tränen vergießen, wenn es ihm überhaupt nicht gefiel in die Kamera zu gucken und auf Mamas Drängen den alten Mann zu grüßen in tausend Kilometer Entfernung. Ein Alter ist übrigens immer ein „Papa“.
Und heute?
Heute hatte er selbst den elektronischen Kontakt hergestellt.
Von der Mutter Vasantha abgeguckt. Vater Raku beherrschte es nicht und ließ die Finger davon. Er hatte dem Söhnchen einen neuen hübschen Haarschnitt angetan. In Deutschland fiel es ihm unbändig schwer Deutsch zu lernen, in Frankreich haperte es wieder mit den Sprachkenntnissen des Gastlandes.
Radus wird im Frühling in den Kindergarten gehen und dann wird er wieder dem Vater etwas
vormachen können.
Längst herrscht kein Krieg mehr im Norden Sri Lankas. Aber die Heimat ist nicht der Sehnsucht Macht.
Es ist gefährlich in Paris und in Frankreich sagte mir Raku vor vier Wochen. „Die Redaktion einer Zeitung wurde ermordet von Terroristen.“ Hatte er gehört. Lesen konnte er es immer noch nicht.
Radus wird später in die Schule gehen und dann seinem Vater etwas vorlesen können.


R. Grobleben, Februar 2015

 

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